Wie lässt sich die kulturelle Relevanz einer Region, ja sogar eines ganzen Landes messen? Darüber streiten Experten und Laien seit Jahrhunderten. Die UNESCO-Liste der Welterbestätten gibt zumindest einen Anhaltspunkt, und Italien nimmt eine zentrale Rolle ein. Im Jahr 2024 wurde bereits der 60. Stätte die besondere Ehre der Aufnahme zuteil – eine mit besonderem historischen Hintergrund. Unter dem Titel „Via Appia. Regina Viarum“ wird die einzigartige Römerstraße, die ursprünglich Rom mit Capua und Brindisi verband, sowie die von Benevent ebenfalls nach Brindisi führende Via Traiana entlang 22 Stationen durch vier Regionen erfasst. Wir verraten dir, was die Via Appia so wichtig machte, was es mit dem Beinamen „Regina Viarum“ auf sich hat, und was es in diesen Abschnitten zu bewundern gibt.
Die Revolution im Straßenbau
Das Römische Reich wuchs schnell und expandierte binnen vergleichsweise kurzer Zeit von einer Lokal- zu einer Großmacht. Um alle Ecken dieses größer werdenden Herrschaftsgebiets zu erreichen, brauchte es befestigte, direkte Verbindungen zu zentralen Orten. Unter dem Konsul Appius Claudius Caecus begann 312 v. Chr. der Bau der ersten Römerstraße, die Via Appia. Ursprünglich verband sie die Hauptstadt Rom mit Capua und sollte den militärischen Nachschub erleichtern, bevor sie um 190 v. Chr. mit Brindisi, einer Hafenstadt im heutigen Apulien im äußersten Süden Italiens, in der heutigen Länge von 540 km verbunden wurde. Nicht umsonst erhielt sie bereits in der Antike den Beinamen „Regina Viarum“, zu Deutsch „Königin der Straße“, der auf den römischen Dichter Publius Papinius Statius aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. zurückgeht.
Im Vergleich zu den damals vorherrschenden unbefestigten Naturwegen, die sich nach den geologischen und topografischen Begebenheiten richteten, waren die Römerstraßen, die schlussendlich ein Streckennetz von 80.000–100.000 Kilometern erschlossen, den heutigen Straßen deutlich ähnlicher. Der Grund wurde durch einen Aushub von etwa einem Meter gesichert, bevor Schichten aus groben Steinen, Kies und Sand bis zur aus Pflastersteinen bestehenden und von Randsteinen umrahmten Fahrbahndecke für Stabilität sorgten.
Der Verfall der Via Appia selbst begann in der Spätantike, als die Versumpfung der Pontinischen Ebene südöstlich von Rom einsetzte. Die heutige Fernverkehrsstraße wurde ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert errichtet und gewann durch die Trockenlegung der Sümpfe in den 1930er Jahren an Bedeutung. Heute ist sie als SS 7 Via Appia eine Staatsstraße und folgt weitestgehend dem ursprünglichen Streckenverlauf. Und doch kannst du an vielen Abschnitten nach wie vor zumindest Teile der antiken Straße sehen, vor allem in Rom, wo einst Grabmäler und Katakomben die Route säumen. Einige von ihnen lassen sich auch heute noch besichtigen.
Von Rom nach Brindisi in 18 Stationen
Der ursprüngliche Streckenverlauf der Via Appia von Rom nach Brindisi bringt nicht nur Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende an Straßen- und Städtebau zusammen, sondern führt durch eine spannende Landschaft im Süden Italiens, die sich mit Sicherheit mehr Aufmerksamkeit verdient hat. Wir folgen den 18 Stationen der UNESCO-Weltkulturerbestätte durch insgesamt vier Regionen und stellen dir das eine oder andere Highlight entlang des Weges vor.
Via Appia in Latium
Ihren Ursprung nimmt die weltberühmte Römerstraße in Rom, im Herzen Latiums, und führt langsam in Richtung Süden. Die Hälfte aller Stationen befindet sich in dieser Region, und das kommt nicht von ungefähr:
- Station 1: Auf der heutigen Piazza di Porta Capena in Rom soll sich einst ein Tor befunden haben – der Ausgangspunkt der Via Appia. Entlang der ca. 21 Kilometer bewegst du dich durch den Südosten Roms. Du passierst die Caracalla-Thermen sowie zahlreiche große Grabmäler und Katakomben auf deinem Weg aus der Stadt.
- Station 2: Die Albaner Berge, Überreste eines ehemaligen Vulkangebirges, stellen den nächsten Abschnitt dar. Du erreichst die sympathische Stadt Albano Laziale mit Überresten des alten römischen Legionslagers Castra Albana, einer alten Thermen und einem weitestgehend verfallenen Amphitheater. Ein Viadukt führt dich zur dritten Station.
- Station 3: Auf der 19. bis 24. Meile, wie es in der offiziellen Bezeichnung heißt, nimmst du antike Ortschaft Lanuvium ins Visier. Der Abstecher ins heutige Lanuvio widmet sich dem imposanten Heiligtum Santuario di Giunone Sospita mit seinem gewaltigen Säulengang, bevor es erneut in die Pontinische Ebene geht.
- Station 4: Ein Abstecher in die von einem Feuersturm zerstörten antiken Stadt Norba, unweit des heutigen Norma, ist ein Muss. Die ab 2011 großflächig freigelegten Straßenzüge führen dich durch eine aktive Ausgrabungsstätte. Der Legende nach sollen Zyklopen oder Herkules die Stadt gegründet und die massiven Steine des Haupttors arrangiert haben.
- Station 5: Eine weitere antike Stadt liegt im Fokus dieses Abschnitt.s Die einstige römische Bürgerkolonie Tarracina unweit des heutigen Terracina ist über diverse Brücken und Tore erreichbar. Überreste alter Gebäude wurden in spätere Strukturen einbezogen, beispielsweise die Porta Romana oder das Foro Emiliano.
- Station 6: Fundi (heute: Fondi) wurde vermutlich von den Aurunkern gegründet und erst später von den Römern übernommen. Die massive Stadtmauer, welche heute die Via Appia einrahmt, überstand schwere Bombenangriffe und rahmt spektakuläre Türme sowie das erdrückende Portella ein.
- Station 7: Einer der landschaftlich schönsten Abschnitte der Via Appia führt über die Monti Aurunci durch den gleichnamigen Naturpark. Die Römerstraße bahnt sich ihren Weg durch Klammen und enge Haarnadelkurven, erreicht Steigungen von bis zu 9,8 % und führt dich an alten Heiligtümern sowie massiven Wänden alter Wasserreservoirs in Richtung Itri.
- Station 8: Nach dieser Herausforderung geht es von Meile 83 bis Formiae über langgestreckte flache Abschnitte in Richtung Meer, vorbei an der hoch aufragenden Tomba di Cicerone. Im heutigen Formia begrüßen dich massive Türme sowie ein Brunnen aus römischer Zeit, der einst den Durst der Reisenden stillte. Über Castellone geht es zum nächsten Abschnitt.
- Station 9: Der Weg von Latium nach Kampanien widmet sich der einstigen römischen Kolonie Minturnae, deren ursprünglich militärische Ausrichtung du anhand des Mauerwerks gut nachvollziehen kannst. Auf den moderneren Abschnitten der Via Appia erkennst du die Spuren der alten Viehkarren.
Via Appia in Kampanien
Weiter geht es in die Region Kampanien, die vor allem für ihre Hauptstadt Neapel sowie den aktiven Vulkan Vesuv bekannt ist. Die am dichtesten besiedelte Region Italiens beherbergt vier Stationen der Welterbestätte:
- Station 10: Weiter geht es entlang eines langgezogenen flachen Küstenabschnitts, bevor der Monte Massico ins Landesinnere führt. Zunächst steht Sinuessa am Programm. Die wenigen erhaltenen Reste des Amphitheaters, der Mauern und des Aquädukts erinnern an die Römerzeit. Pagus Sarclanus, ein gewaltiger römischer Komplex, bringt dich zum nächsten Ziel.
- Station 11: Die bereits im 9. Jahrhundert v. Chr. besiedelte Region des heutigen Capua trägt auch heute noch die Spuren römischer Triumphe. Hier findest du Überreste des zweitgrößten Amphitheaters des Römischen Reichs sowie den Triumphbogen zu Ehren von Kaiser Hadrian. Ein überaus seltenes, gut erhaltenes Mithräum erwartet dich in der Innenstadt.
- Station 12: Wir nähern uns nun Benevent, dem einstigen Beneventum und ursprünglichen Ziel der ersten Via Appia. Hier steht der weltberühmte Trajansbogen, dessen Reliefs ein komplettes politisches Programm abbilden. Ein weiteres verfallenes Amphitheater sowie der monumentale Arco del Sacramento zählen zu den Highlights.
- Station 13: Nun begeben wir uns auf den Weg in die Region Basilikata und nehmen Aeclanum ins Visier. Zuvor machst du Halt in Nuceriola, wo Reisende einst rasteten. Die weiterhin in den Himmel ragenden Pfeiler der zerstörten Ponte Rotto sind Zeugen längst vergangener Tage. In der Ausgrabungsstätte Aeclanums erwarten dich Überreste der alten Mauer- und Stadtstrukturen.
Via Appia in der Basilikata
Eine der am dünnsten besiedelten Regionen Italiens wird zum Übergang in Richtung Straßenende. Gerade einmal eine Station befindet sich in der Basilikata und führt ohne Umschweife weiter nach Apulien:
- Station 14: Zwischen hochaufragenden Hängen und weiten Feldern zieht sich die Via Appia durch das Obere Bradano-Tal. Dieses Gebiet wurde über weite Strecken bereits zu römischer Zeit landwirtschaftlich genutzt. Venosa mit seinem Archäologiepark ist ein Muss, speziell die alte Abbazia della Santissima Trinità.
Via Appia in Apulien
Den Abschluss dieser großen Reise macht Apulien, die südöstlichste Region Italiens, die den „Absatz“ des Landes bildet. Auf dem Weg nach Brindisi findest du die letzten vier Stationen:
- Station 15: Zahlreiche Wagenspuren führen dich entlang einer ehemaligen „Schafstiege“ mitten durch einen weiteren landschaftlich schönen Abschnitt. Unweit der heutigen Stadt Altamura siehst du die Überreste der alten Straße sowie kleiner Raststationen.
- Station 16: Mit Tarent, das ursprünglich eine griechische Kolonie war, steht eine weitere wichtige Stadt auf dem Programm. Immer wieder stößt du auf Überreste des einstigen Tarentum, wie die Säulen des Tempo Dorico oder der tatsächlichen mit Schotter gehärteten Via Appia Antica. Weitere Highlights besichtigst du im Archäologischen Nationalmuseum.
- Station 17: Die alte Römerstraße setzt nun ihren Weg zur Adriaküste fort und führt an der einstigen Raststation Mesochorum vorbei. Rund um Oria siehst du die Reste diverser Abzweigungen der Via Appia, die unter anderem die einst von den Messapiern gegründete Stadt Urbius erschlossen. Bei der Raststation Scamnum hast du bereits das Ziel vor Augen.
- Station 18: Die römische Kolonie Briundisium wurde um 244 v. Chr. gegründet, um den natürlichen Hafen zu erschließen. Das heutige Brindisi wurde zu einem strategisch wichtigen Punkt des Römischen Reichs. Davon zeugen diverse Ausgrabungsstätten, beispielswiese San Pietro degli Schiavoni, sowie die mächtigen römischen Säulen am Ende der Via Appia.
Die vier Stationen der Via Traiana
Moment mal, war nicht ursprünglich von 22 Stationen die Rede? Tatsächlich haben wir dir vorerst vier davon unterschlagen. Sie gehören zur Via Traiana, die bei Station 12 in Benevent von der Via Appia abzweigt und ebenfalls nach Brindisi führt. Sie entstand um 109 v. Chr. auf Geheiß von Kaiser Trajan, als die Via Appia aufgrund einer militärisch ruhigen Zeit an Bedeutung verloren hatte, und erreichte ihr Ziel zudem einen Tag schneller als die ursprüngliche Römerstraße. Entlang der Küste erwarten dich einige Highlights:
- Station 19: Die Via Traiana nahm ihren Ausgang ursprünglich kurz nach dem Trajansbogen und führte über die Ponte Valentino ohne Umweg in Richtung Apulien. Unweit von Buonalbergo begeistert die Ponte delle Chianche, eine der besterhaltenen Brücken entlang der Straße. Einige der alten Marksteine der Via Traiana wurden hingegen für Bauzwecke entfremdet, darunter die Kirche Santa Maria dei Bossi in Casalbore.
- Station 20: Die Kleinstadt Troia wurde auf den Ruinen der antiken Siedlung Aecae erbaut. Nach einer kurzen Tour geht es ins offene Terrain. Kilometerlange, schier endlose Felder begleiten die Via Traiana in Richtung Süden. Alte Brücken und Aquädukte säumen den Weg nach Herdonia.
- Station 21: Eine 170 Meter lange Brücke mit fünf massiven Bögen quert den Fluss Ofanto und steuert die Kleinstadt Canosa di Puglia an, wo sich einst eine griechische Siedlung befand. Eine große Friedhofsanlage, die ihren Ursprung in vorrömischer Zeit nahm, säumt den Weg. Der verwachsene Arco di Varrone ist ein weiteres Highlight, bevor die archäologische Ausgrabungsstätte bei Barletta eine eindrucksvolle Cittadella zutage fördert.
- Station 22: Abschließend steuerst du die apulische Hauptstadt Bari an und ziehst weiter nach Süden entlang der Küste. Auch hier entdeckst du immer wieder tiefe Furchen alter Wagen, lässt sich von der Abtei San Stefano bei Monopoli sowie den gewaltigen Dimensionen der antiken Stadt Egnatia verzaubern. Überreste alter Heiligtümer und frühchristlicher Kirchen säumen den Weg zu deinem Ziel in Brindisi.
Die schier endlose Via Appia sowie die etwas kleinere, ebenfalls spannende Via Traiana waren für die Entwicklung des Römischen Reichs von entscheidender Bedeutung. Auf deiner Spurensuche entdeckst du nicht nur alte Straßenabschnitte und Wegreste, sondern spannende Ortschaften und faszinierende Ausgrabungsstätten, die dir eindrucksvolle Einblicke in das Leben vor zweitausend Jahren und mehr gewähren. Als willkommener Nebeneffekt erkundest du beim Besuch der verschiedenen Stationen den sträflich übersehenen Süden Italiens und entdeckst manch einen wunderschönen Ort. Diese ausgedehnte UNESCO-Welterbestätte wird dich mit Sicherheit in ihren Bann ziehen.